Die Kioskrundgang-Kurzgeschichte zweier Freunde an einem Sommerabend
Wir schreiben das Jahr 2021. Es ist Sommer. An einem Freitagnachmittag, jenseits der Grenze zum Wochenende, setzen wir – noch etwas zaghaft und unsicher – unsere ersten Schritte auf den heißen Asphalt, unsere Skateboards unterm Arm. Zaghaft deshalb, weil wir dem Frieden und der Freude, die von den überschwänglich lachenden und erzählenden Menschen, die sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder in großen Trauben auf den Straßen tummeln, noch nicht ganz trauen. Ist Corona jetzt besiegt?
Natürlich nicht. Aber es fühlt sich ein wenig so an. Mit einer Mischung aus besagtem Misstrauen, sozialer Überforderung und blanker Euphorie lassen wir uns also vom Sommerwind in den Abend treiben, um uns auf die Suche nach den Geschichten der Helden dieser Momente zu begeben.
Schnell noch Geld ziehen, denn Kioske sind Orte des Bargelds. Haus des Bargelds – ein neues Netflix-Format? Mit drei Geldscheinen in der Brieftasche und den Augen auf der Leuchtreklame wird der Hagenringkiosk angesteuert. Ein Durstlöscher, zwei halbe Grüne: das Herrengedeck der Asphaltstrolche. Man kennt sich inzwischen. „Lech?“, fragt der eher wortkarge Handelsvertreter des guten Geschmacks. „Hab ich aber eben erst kaltgestellt.“ Deshalb erst mal die neu nachgelegten Hülsen zur Seite schieben und gucken, dass man eins von den durchgekühlten hinten zu greifen bekommt. Tatsächlich, die Sensorik in den Fingern schlägt an, die zwei hier sind gut kalt. Noch einen Tabak, noch ein paar Blättchen. „Filter auch?“ Aber Filter sind noch da. Also bezahlen, Wechselgeld ungelenk mit den zwei Pullen und dem Trinkpäckchen in der Hand in die Hosentasche gleiten lassen und raus in die tief stehende Sonne. „Fump, fump“ – die Biere mit dem Feuerzeug geöffnet und weitergereicht. Wir lassen uns direkt vor dem Laden nieder, sitzen auf Skateboards, die uns durch den Abend tragen. Kippchen drehen, dem Treiben der Kreuzung zuschauen.
Zwei gut gelaunte Männer Mitte dreißig gesellen sich dazu, sie seien eben im Prinzenpark gewesen, wie sie erzählen, und haben schon ganz gut einen angepegelt. „Nächster Stopp: Bürgerpark“, sagt der eine, nachdem er mit einer Flasche Rotwein aus dem Kiosk kommt. Ein weiterer Mann kommt auf seinem Fahrrad hinzu: „Passt ihr kurz drauf auf?“, fragt er in die Runde. Die beiden Angelevelten und wir tun das mit Freude: „Klar, wir kennen uns doch schon ewig“, scherzen die Rotweinpiraten, keinen Hehl daraus machend, den Radfahrer gerade zum ersten Mal in ihrem Leben gesehen, geschweige denn jemals gesprochen zu haben. Alle Beteiligten lachen: Was für ein heiteres Treiben. Dem wohnt eine gewisse Romantik inne, diese temporären Trinker-Zweckallianzen sind über ihre kurze Dauer von unbeugsamer Loyalität gezeichnet. Dann trennt man sich in den verheißungsvollen Abend und sieht sich womöglich nie wieder. Aber für die Zeit hätten wir alle wahrscheinlich auch kurz das Neugeborene des Fahrradfahrers gehalten.
Kioske schüren irgendwie dieses Zusammengehörigkeitsgefühl: Es sind per se keine Orte des klassisch Schönen, doch sind sie Begegnungsstätten mit wärmender Integrität. Jeder und jede ist Zielgruppe dieser Läden und verkehrt hier: Die Jüngsten kaufen bunte Tüten, Limonade oder ein Comicheft; Pubertierende, die ihren Hormonvorsprung dafür einzusetzen versuchen, den Verkäufern mit 14 ein Desperados aus den Rippen zu leiern, und natürlich Stammkunden, von denen man weiß, dass diese fünf Oettinger wahrscheinlich schon gestern und vorgestern Ration waren und es sehr wahrscheinlich auch morgen wieder sein werden. Wir trinken aus, eine letzte Zigarette, dann geht es weiter: Die Kioske als Checkpoints.
Den zweiten Halt machen wir etwas abseits des Trubels beim Kiosk an der Kastanienallee. Hinter dem Tresen quatschen zwei junge Männer miteinander, während sie Getränke in die Kühlschränke hinter sich einsortieren. Einer der beiden stellt sich uns als Louis vor. Er trägt ein blauweiß-gestreiftes T-Shirt, eine weite khakifarbene Hose und Sandalen. Außerdem eine Sonnenbrille und eine Strickmütze, die vom Schnitt, passend zum Shirt, an einen Matrosen und von den Farben her an die Pride-Flagge erinnert. Er dreht sich eine Zigarette und kommt auf einen kurzen Schnack zu uns vor die Tür.
Seit Herbst 2019 arbeitet er jetzt hier. Auf die Frage, ob sich auch aufgrund der Lockerungen in der Corona-Politik wieder mehr tue, antwortet er: „Absolut. Aber ich würde da jetzt nicht zwingend einen Bezug zu Corona herstellen. Es ist ja jetzt auch abends einfach wieder wärmer und eigentlich hat sich die Pandemie auch nicht unbedingt negativ auf den Durst der Leute ausgewirkt.“
Nachdem er seinem Kollegen erklärt hat, in welchem Regal der American Spirit-Tabak zu finden ist, erzählt er, dass er normalerweise gerne „Ötti“ trinke, hier aber, da er ja Prozente bekomme, „auch schon mal was Köstliches wie so‘n Bayreuther Helles.“
Dann muss er wieder rein. Es gibt Kundschaft. Und auch wir machen uns auf den Weg, denn der nächste Stopp wartet bereits.
Obwohl es bereits zu dämmern beginnt, drückt die Hitze noch immer und neben der Freude über das kühle Bier macht sich langsam Frust darüber breit, dass wir es versäumt haben, aus dieser Oase der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse neben zwei prickelnden Hopfenschorlen nicht auch noch ein Calippo Cola und einen Flutschfinger mitgenommen zu haben.
Der Kiosk neben der HBK blüht auf, die Kontaktbeschränkungen fallen, die Künstleravantgarde Braunschweigs geht vermehrt flanieren. Es ist 20.21 Uhr. Hassan steht rauchend vor seinem Laden: „Euch hab ich ja ewig nicht gesehen!“ Der Mann ist eine Frohnatur. Wie es ihm denn so gehe, jetzt gerade vor dem Hintergrund vergangener Lockdowns? „Mir geht’s immer gut. Ich bin ein positiver Mensch. Die Bäume sind grün, die Autos fahren, alles schön!“ Jetzt ist ein Radler gefragt, denn sommerliche Temperaturen verlangen nach Erfrischung. Klönen und schwatzen, ein Blick in die Branchenzeitung der Kioskhändler: Der Trend geht in Richtung bargeldloser Zahlung, klare Kiste, auch Pandemie-bedingt. Doch bei Hassan zahlt man nach wie vor mit Papier und Metall. Die Pläne für den Abend verdichten sich, für das obligatorische Wegbier drückt Hassan seine Kippe aus, reicht die Flaschen rüber und weiter geht’s.
„die Pandemie hat sich nicht negativ auf den Durst der Leute ausgewirkt“
Kiosk Braunschweig 2021
Fotobuch
Konzept und Text Marius Zengler | Bild und Gestaltung Sascha Griese
Eine Kioskfotosafari durch Braunschweig. 26 Bilder Kioskkultur. Hochwertiger Fotodruck auf starkem Papier im Format A5-Quer.
Das Buch haben die beiden in Eigenregie publiziert. Käuflich erwerben kann man es unter anderem bei Graff oder auf Sascha Grieses Website
www.photo-sg.de. Preis: 19,90€.
Durchgeschwitzt und erschöpft aber tief glücklich erreichen wir den Heimnetkiosk am Bohlweg. „Zwei kleine Wolters.“ Wir zahlen und bekommen, wie immer, beide noch ein Kaugummi zugesteckt. Warum eigentlich? „Weil es einfach allen gefällt. Die Kunden freuen sich jedes Mal darüber. Sie erinnern sich an frühere Zeiten. Centershock gibt es ja schon so lange. Oder Melonenkaugummi zum Beispiel. Das macht die Kunden sehr glücklich“, erklärt uns der freundliche junge Mann, der eigentlich gerade seine Schicht beendet und sein Feierabendbier bereits geöffnet hat. Natürlich Wolters, was im Übrigen auch die Antwort auf die Frage nach seinem Lieblingsbier ist. Wie aus der Pistole geschossen und fast schon verwundert darüber, dass es aus unserer Sicht mehr als eine Antwort auf diese Frage geben könnte, schleudert er uns den Namen der Braunschweiger Traditionsbrauerei entgegen.
Seine beste Erfahrung als Mitarbeiter im Kiosk war, als die Fußballmannschaft der Eintracht Braunschweig aufgestiegen ist. „Alles voll hier. Alle am Feiern! Das war echt cool. Da haben einfach alle gefeiert und waren glücklich.“ Ein waschechter Braunschweiger.
Wir greifen uns die beiden Flaschen, die auf der Theke stehen und schlendern Richtung Schlossplatz. Jetzt ist es schon recht dunkel und die Temperatur einigermaßen erträglich. Auf den Treppen vor dem Eingang der Arkaden sitzend, tauschen wir uns über Musik und Politik aus, erzählen uns von unseren Lebensplänen, sprechen über zerbrochene Beziehungen und solche, die gehalten haben, und zünden eine Zigarette an der nächsten an.
Das nostalgisch-intensive Gespräch verlangt nach einer neuen Runde Getränke und so kehren wir einmal mehr im Heimnet ein, um uns zwei Dosen Jacky Cola in die Hand drücken zu lassen. Dann lassen wir uns wieder auf der anderen Seite des Bohlwegs nieder. Dieses Prozedere wiederholt sich wenig später noch zwei Mal, bis wir schließlich die Entscheidung treffen, leicht beschwipst den Heimweg anzutreten. Schöner wird es nicht.
Die beiden Braunschweiger Marius Zengler und Sascha Griese sind ebenfalls Kiosk-Fans. Einige Tage später treffen wir die beiden am Flamingo-Kiosk im Östlichen Ringgebiet. Für sie gibt es eine Wolters-Granate, dann sprechen wir am viel befahrenen Altewiekring über ihr kürzlich erschienenes Buch. Im Zuge der Unentspannheit, die von Corona ausging, machten sie es sich zwischen Februar und April diesen Jahres zur Aufgabe, die Büdchen der Stadt abzulaufen und fotodokumentarisch zu erfassen.
„Am Anfang wollten wir einen Kalender daraus machen, aber dann haben wir uns für ein Fotobuch entschieden“, so Fotograf Sascha Griese. Für ihre Touren gaben sie sich sämtliche Klinken in die Hand, spulten dabei pro Ausflug mit Fotoequipment durchaus mal bis zu 30 Fußkilometer ab. „Wir mussten manche Läden mehrmals ansteuern, einfach weil die Lichtverhältnisse für die Fotos nicht optimal waren“, führt Sascha aus. 13 Kioske haben es in das kompakte DIN-A5 Büchlein geschafft, die beiden wollten die schönsten und urigsten Stätten bündeln und sich darauf beschränken. „Das Fanta-Schild am Kiosk Kleine Kreuzstraße etwa stammt laut dem Besitzer original aus den 60er- Jahren“, so Marius, der für das Buch das Vorwort auf einer alten Schreibmaschine verfasst hat.
Essenzieller Bestandteil sind neben den wirklich hübschen Fotografien der Läden samt Detailaufnahmen, für jeden Kiosk die Preise eines 0,33 Wolters, sowohl für Premium-grün als auch Handgranaten-braun.
Fotos Priska Dolling, Sascha Griese/„Kiosk Braunschweig 2021“, Simon Henke
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