„Lieder kann man nicht verbrennen“

Das Kölner Erfolgs-Trio AnnenMayKantereit veröffentlichte zum Lockdown überraschend sein drittes Album „12“ – wir haben es mal ein wenig wirken lassen.

Als K.I.Z 2015 ihren Mega-Hit „Hurra die Welt geht unter“ landeten und sich alle fragten, wer mit dieser rauchig-tiefen Stimme den Refrain vom Ende der Welt röhrt, war die ganze Republik fasziniert vom schmächtigen, jungen Lockenkopf namens Henning May. Es folgte ein überwältigender Erfolg seiner Band AnnenMayKantereit inklusive Dreifachgold für ihr Debütalbum „Alles nix konkretes“. 2018 kam „Schlagschatten“ und restlos ausverkaufte Touren in den größten Arenen Deutschlands. Binnen weniger Jahre wurden die Kölner Jungs zu einer der größten und erfolgreichsten Bands Deutschlands, die Teenie- sowie Eltern-Herzen gleichermaßen zum Schmelzen bringen. Es ist diese gewaltige Stimme von Henning May, die einen fesselt, die einen zum Weinen und zum Tanzen bringen kann.

 

Nicht wenige haben jedoch die rosarote Brille nach „Barfuß am Klavier“ und „Oft gefragt“ schnell wieder abgesetzt – der Henning heult irgendwie zu viel am Klavier rum. Spätestens seit „Pocahontas“ auch im Bierkönig gegrölt wird, verdrehen viele nur noch die Augen, wenn man sie nach AnnenMayKantereit fragt. Das muss der Lauf der Dinge sein, wenn etwas so gut ist, dass es nicht in eine spezielle Nische passt, sondern für alle eine Identifikation anbietet. Den Riesen-Erfolg muss man gönnen können – nicht immer eine leichte Aufgabe. Dass die AMK-Jungs sich jedoch ganz schön weiterentwickelt haben, von talentierten Straßenmusikanten über Mid-20s mit Liebeskummer zu erwachsenen Musikern, die das Weltgeschehen reflektieren, wird bei der Lästerei gerne übersehen.
Und dann kam „12“; ein außergewöhnliches Album, das vor allem mit seiner Authentizität punktet und düstere Einblicke gewährt, wie es sich für eine Band anfühlt, deren Träume von ihrer bisher größten Tournee und Konzerten in Moskau platzten.

Melancholische Schnipsel
Die Nachricht, dass Christopher Annen, Henning May und Severin Kantereit ein drittes Album gebastelt haben, erreichte uns völlig überraschend an einem von vielen trostlosen Novembertagen. Ohne die Platte gehört zu haben, war da direkt ein kleines Stück Hoffnung auf neue Songs, die nur darauf warten, endlich wieder live gespielt zu werden. Dann haben wir auf Play gedrückt und uns dieses besondere Album in Ruhe angehört. Die Hoffnung war erstmal dahin – „12“ klingt schnipselartig, finster und noch melancholischer als sonst. Scheinbar halbfertige Songs skizzieren eine unentschlossene Stimmung, minimalistische Zeilen malen graue Bilder vom tristen Corona-Alltag ohne Kneipen, von der Isolation, dem Lockdown und der Hilf- und Nutzlosigkeit. Was steckt dahinter?
„Das war erstmal eine ziemliche Umstellung und ein Schock, von der Tour wieder nach Hause fahren zu müssen und zu checken, dass 2020 keine Konzerte mehr gespielt werden können“, berichtet uns Gitarrist Christopher rückblickend im exklusiven Zoom-Interview mit dem Trio.

Die Zeit zu Hause in den eigenen vier Wänden hat die Band genutzt, um Musik zu machen. Täglich hat sich das Trio im Chatroom getroffen und an Ideen gearbeitet – teils gemeinsam, teils jeder für sich. Die Ideen, die nachts in der Küche oder vormittags beim Blick aus dem Fenster entstanden, wurden mit dem Handy aufgenommen und hin- und hergeschickt. „Als wir uns dann wirklich mal getroffen haben, war schon relativ viel Material da“, meint Christopher weiter. Das räumlich getrennte Teamwork hat überraschend gut funktioniert – jeder hat über seinen musikalischen Vorstellungen gebrütet, bis die Zeit reif war, dem Rest der Band seine vertonten Gefühle vorzulegen. „Ich habe in dieser Zeit noch mal mehr realisiert, wie wertvoll es ist, als Gruppe Musik zu machen“, so die Stimme der Truppe Henning.

 

 

Herausgekommen ist ein atmosphärisches Konzeptalbum mit düsterem Beginn, einer darauffolgenden leichten Verschnaufpause und einer süß-bitteren Wahrheit zum Abschluss. „Wir würden uns freuen, wenn man sich einfach mal eine halbe Stunde Zeit nimmt, sich hinsetzt und mit dem Album beschäftigt, weil es da wirklich um die Musik geht“, erläutert Christopher. Deshalb wurden auch im Vorfeld keine Singles veröffentlicht – das Album soll in seiner Reihenfolge als Ganzes gehört und verstanden werden. „So können die Leute für sich entscheiden, welchen Song sie schön finden und wo sie sich connecten können“, erklärt Schlagzeuger Severin.
Also haben wir uns die Zeit genommen und „12“ am Stück gehört. Aus einer halben Stunde wurden Stunden, die das Album im Loop lief, in denen einzelne Songs rausgepickt wurden, um genauer hinzuhören und sich bewusst zu machen, was Henning da mit so wenigen Worten so treffend auf den Punkt bringt: „Phrasen, Versprechen, Parolen – so laut, so leer“.

Die Uhr schlägt zwölf
Durch das Konzeptalbum ziehen sich Zeilen und Melodien, die immer wieder aufgegriffen werden – natürlich in Moll. Hennings Klavierspiel klingt wie Sand, der dramatisch durch eine Sanduhr rinnt; wie das Vergehen von Zeit. „Ich glaube, jede Zeit hat ihre einzigartigen Challenges, aber es gab noch nie eine Welt mit circa acht Milliarden Menschen, einer Pandemie, dem Klimawandel, unglaublich vielen Diktatoren, die Bock auf Krieg haben, Donald Trump und der AfD“, platzt es aus dem Sänger heraus, „jetzt fühlt sich das alles irgendwie final an und das empfinde ich als sehr bedrohlich.“

In der Tat machen AMK auf „12“ viele Fässer auf – das Hamburger Abendblatt etwa betitelt das dritte Album der Kölner deshalb als „das falsche Album zur falschen Zeit“, als einen „Corona-Blues mit unerträglichem Selbstmitleid“. Auch der Rolling Stone bezeichnet die Musiker als „Luxus-Leidensmänner“, Ausrufe wie „Herrje!“ fallen in Rezensionen. Henning wird plötzlich zu Politik befragt, weil in den neuen Songs die Dinge unverblümt beim Namen genannt werden – dafür brauchte es enorme Überwindung, gibt er zu. „Wir haben durch Corona noch einmal gemerkt, wie krass Politik unser direktes Leben mitsteuert“, so der Sänger. Und so gibt es auf „12“ auch zu hören, wie Henning durch seine Wohnung läuft und seine Gefühle in sein Handy singt. Es sind Aufnahmen, auf denen man Räuspern und Knarzen hören kann – ist es nicht genau diese unverblümte Echtheit, die wir in dieser modernen Flut aus Filtern und Fake News-Hetze so sehr vermissen?

AnnenMayKantereit geben uns einen Blick hinter die Kulissen einer Band, die den ganz großen Erfolg gar nicht mehr sucht. Vielmehr vertonen sie hier eine generationsübergreifende Sehnsucht und lassen die Alarmglocken der Kunst- und Kulturbranche noch einmal lauter läuten: „Es ist immer schwer zu bemessen, wie viel Kultur am Ende nicht geschrieben wurde. Aber ich glaube, dass ganz viel Kunst und Kultur gerade nicht stattfinden kann und langfristig verschwinden wird. Eine alte Jazzkneipe stirbt nicht zwei Mal“, konstatiert Severin. „Es geht aber nicht nur um die ungeschriebenen, sondern auch um die unaufgeführten Lieder“, wirft Henning im Interview ein. Schließlich wird nirgends mehr zusammen gesungen – nicht im Stadion, nicht in der Kneipe, nicht auf Konzerten. „Ich mache mir große Sorgen, denn ich habe das Gefühl, dass das kleine Wir stärker wird – die Nähe zur Familie und Freunden, die man eh schon hat. Man hat viel weniger Nähe zur Fremde – das große Zusammensein geht gerade kaputt, obwohl wir große Gemeinschaften brauchen, um Sachen zu verändern!“, resigniert auch Henning.

Zugegeben, diese Ängste und die Verzweiflung spiegeln sich in den rund 16 Stücken des Lockdown-Albums wider, aber einen neuen Hit für den Ballermann findet man dort glücklicherweise auch nicht. Vergraben unter der Melancholie liegt in „12“ ein wertvoller Schatz, den man erst beim zweiten oder dritten Hördurchgang findet: „12“ ist eines der wichtigsten Alben des verflixten Corona-Jahrs, denn Vergleichbares flatterte uns nicht in die Redaktion. Ein einmaliges Stück Erinnerung an eine Zeit, die es so noch nie gegeben hat. Und so wie es war, so wird es nie wieder sein.

Fotos Martin Lamberty

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Geschrieben von Louisa Ferch

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