Songwriterin Alli Neumann tourte mit Groove, Charme und ihrem Debütalbum „Madonna Whore Komplex“ durch die Republik. Ihr Konzert am 14. Dezember im Capitol Hannover musste leider aufgrund der neuen Corona-Verordnung ausfallen.
Alli Neumann hat keinen Bock aufs Patriarchat: Das manifestiert sie auch auf ihrem viel gelobten Debütalbum „Madonna Whore Komplex“, auf dem sich die gebürtige Nordfriesin von veralteten Rollenbildern und Menschen frei singt, die sie in der Vergangenheit kleingehalten haben. Mit ihrem alternativen Indie-Pop zwischen Bilderbuch und Nina Hagen trifft der sympathische Wirbelwind den Puls der Zeit und spricht ihren Fans aus der Seele. Nebenbei engagiert sich die Wahlhamburgerin ehrenamtlich und kämpft für ihre Vision von einer besseren, gerechteren Welt. Features mit Dancehall-Musiker Trettmann, Freundeskreis-Star Max Herre und Ex-SXTN-Rapperin Nura kann Alli bereits von ihrer Bucketlist streichen. Ebenso wie Die Grünen 2021 bei ihrer Wahlkampf-Tournee begleitet zu haben und als Schauspielerin im Spielfilmdebüt „Wach“ des einstigen Teenie-Stars Kim Frank zu glänzen. Seit Anfang November ist Alli mit ihrer neuen Platte auf Tour und sollte am 14. Dezember auch Halt im Capitol Hannover machen. Doch aufgrund der aktuellen Corona-Situation musste das Konzert leider abgesagt werden. SUBWAY hat sich dennoch mit der vielseitigen Künstlerin zum Interview verabredet, um über ihr politisches Engagement, den Weg zum eigenen Album und ihr nutzlosestes Talent zu sprechen. Dabei waren wir geflasht von der Energie, die Alli durchgehend ausstrahlte, obwohl sie an diesem Tag schon einen Interview-Marathon hinter sich hatte.
Hey Alli, wie gehts dir?
Mir gehts sehr gut. Ich bin ab morgen mit meiner Gesangslehrerin in Sizilien und mache dort einen knallharten Workshop für die Tour. Ich freue mich voll krass darauf, weil es in Hamburg derzeit nicht so geil ist und mega regnet. Deshalb tut es gut, rauszukommen und mich auf die Tour vorzubereiten. Ich muss heute aber früh schlafen gehen, weil ich morgen um drei Uhr aufstehen muss.
Du hattest heute auch schon einen langen Interviewtag. Welche Frage hast du bislang am häufigsten gehört?
Wahrscheinlich woher der Albumtitel „Madonna Whore Komplex“ kommt. Aber diesen Deal bin ich eingegangen, als ich mein Album so genannt habe. Wer seine Platte nach einer freudschen Theorie benennt, der muss das auch erklären. (lacht)
Tatsächlich habe ich diese Frage auch auf meinem Zettel stehen. Magst du auch uns aufklären?
Also die freudsche Theorie des Madonna Whore Komplexes besagt, dass Frauen in der männlichen Wahrnehmung in Madonnen und Huren getrennt werden. Das ist aber nicht nur bei Männern so, denn wir Frauen haben das auch adaptiert – also ich zumindest. Ich wollte mich davon lösen und habe deshalb versucht, den Begriff für mich neu zu belegen: Frauen sind komplexe Wesen, die die Madonna und die Hure in sich vereinen können. Jeder kann seriös und trotzdem sexy sein. Nichts davon schließt sich aus.
Welchen Film kannst du empfehlen, der den Madonna Whore Komplex thematisiert und gut veranschaulicht?
„Taxi Driver“ ist einer der Bekanntesten.
Dein Debütalbum ist endlich am 3. September erschienen. Wie war der Release für dich? Hast du gefeiert?
Ich hatte eine richtig schöne, kleine Release-Party mit meinen Schwestern, meiner Band und meinem Team. Ich wurde sogar mit einer Torte überrascht, auf der „Madonna Whore Komplex“ stand. Ich hatte noch nie eine Torte, wo irgendetwas draufstand. (lacht) Ansonsten feiere ich es natürlich auch emotional extrem, weil ich da mein Leben lang drauf hingearbeitet habe, irgendwann ein eigenes Album rauszubringen. Im Dezember kann ich es sogar als Vinyl in den Händen halten. Dann könnte es sein, dass ich explodiere und zu grünem Schleim werde. Das wäre zu viel. (lacht)
Hast du Corona als Segen für dein Debütalbum empfunden?
Ja, schon. Vor Corona hatte ich so wenig Zeit wie noch nie zuvor für Musik. Was eigentlich witzig ist, weil es ja mein Beruf ist. (lacht) Ich hatte vor „Madonna Whore Komplex“ schon an einem Album gearbeitet und immer mal wieder Songs aufgenommen. Es war jedoch nichts, was ich so richtig machen wollte. Während des Lockdowns hatte ich mal Zeit, mich hinzusetzen und zu überlegen, was ich überhaupt möchte. Also habe ich ganz viele Songs noch mal neu gemacht – um der Kunst willen. Ich hatte eine intensive Zeit, in der ich mich inhaltlich mit den Themen auseinandersetzen konnte und auch musste. Das war auf jeden Fall gut für mich.
War der Schreibprozess genauso befreiend, wie sich deine Platte anhört?
Eigentlich war es ein eigener emotionaler Befreiungsprozess, der eh nötig war. Das Album hält ganz gut meinen eigenen Emanzipationsprozess fest, sowohl die schmerzhaften als auch die befreienden Momente.
Nicht nur Frauen leiden unter dem Patriarchat, sondern auch Männer. Denkst du, wir würden viel schneller mit der Beseitigung des Patriarchats vorankommen, wenn sich mehr Männer von der strikten Heterosexualitätsnorm emanzipieren würden?
Erst mal mega cool, dass du das auch sagst. Ja, für mich wird das Patriarchat auch teilweise von Frauen ausgeführt. Auch wenn es gegen uns gerichtet ist, ist es trotzdem nicht so, dass wir nicht auch anderen Menschen und uns selbst das Leben schwer machen mit den Dingen, die wir durchs Patriarchat angenommen haben. Viele von meinen schwulen Freunden leiden extrem unter dem Patriarchat. Alle Leute, die nicht heteronormativ sind, aber genauso die heteronormativen Männer. Sogar dem weißen alten Mann wurde vom Patriarchat die Aufgabe auferlegt, immer alles richtig machen zu müssen, stark und ein Bestimmer zu sein. Ich glaube, wir können alle nur gewinnen, wenn wir uns gemeinsam davon freimachen.
Der derzeitige Trend im Musikbusiness ist ja, mehrere Singles auszukoppeln, bevor das Album erscheint. Du hast dich für zwei Vorab-Singles entschieden, obwohl die Platte viele Single-würdige Songs hat. Wie kam es dazu?
Vielleicht kommt ja noch eine Singleauskopplung?! (lacht) Mir war es wichtig, das Album zwar anzuteasern, aber den Leuten die Gelegenheit zu bieten, das Album erst einmal als Ganzes wahrzunehmen, da ich die Platte selbst sehr als Konzeptalbum verstanden habe. Es hält auch inhaltlich meine emotionale Reise fest. Ich hoffe generell, dass das Album an sich nicht an Stellenwert verliert. Ein Song hat schon eine unfassbare Macht, aber eine inhaltliche, kreative, musikalische Auseinandersetzung über eine lange Spielzeit besitzt für mich noch eine andere Kraft.
Als ich mir die Tracklist angeschaut habe, habe ich bemerkt, dass Songtitel mal klein, mal groß geschrieben sind. Was steckt dahinter?
Da steckt tatsächlich mehr dahinter. Für mich haben Buchstaben und alles, was grafisch ist, auch einen emotionalen Einfluss. Tatsächlich habe ich mir tagelang darüber den Kopf zerbrochen, in welcher Groß- oder Kleinschreibung meine Songs widergespiegelt werden.
Du hast ja auch dein eigenes Label gegründet und „Madonna Whore Komplex“ mit Four Music als Partner darauf veröffentlicht. Welche Möglichkeiten bietet ein eigenes Label?
Was davor auch schon super war, ist dass ich kreativ und frei arbeiten konnte. Jetzt gibts natürlich noch mal den Unterschied, dass ich auch die Handhabe über meinen eigenen Katalog und meine Musik habe. Das war mir einfach wichtig. Es ist halt mein Baby, das ich ganz nah an mir behalten möchte und in den Händen von Menschen wissen möchte, denen ich vertraue – also mir und meiner Managerin. (lacht) Natürlich ist es auch schön, dass ich mir weiterhin die Menschen aussuchen kann, mit denen ich zusammenarbeiten möchte. Und ich habe auch ein echt tolles Team um mich herum. Das macht das Leben auch toll, wenn man mit so vielen schönen Leuten zusammenarbeitet.
Welche Musiker:innen würdest du mit einer perfekten Zehn bewerten?
Schwierige Frage. Gesellschaftlich und musikalisch habe ich verschiedene Heroes. Also Lizzo ist für mich ganz vorn dabei, dann kommen Rio Reiser und Prince. Die Auswahl nehme ich.
Du stellst dich bewusst gegen gesellschaftliche Normen und kämpfst für deine Überzeugungen. Wie schaffst du es, so bei dir zu sein?
Da stellst du eine sehr gute Frage, denn das frage ich mich trotzdem immer wieder und finde es teilweise noch immer schwierig, mich einzusetzen, laut zu sein und Zivilcourage zu zeigen. Ich stelle mir deshalb eine Welt vor, in der ich leben möchte, und halte mir vor Augen, was das für eine Zukunft ist. Die Liebe zur Vision einer neuen Welt motiviert mich sehr. Ich versuche auch empowernde Musik zu hören. Musik ist für mich ein super Tool, wenn es darum geht, an gesellschaftlichen Normen zu rütteln. Von Ton Steine Scherben bis Lizzo habe ich eine große Bandbreite an Unterstützung in meiner Playlist.
Welche Rolle spielen deine Schwestern dabei?
Meine Schwestern haben darin vor allem die Rolle, dass sie Menschen sind, von denen ich weiß, dass sie mich bedingungslos lieben. Ihre Liebe an mich ist nicht an gesellschaftliche Normen oder eine Rolle geknüpft. Das gibt mir eine große emotionale Freiheit, wenn ich weiß, da sind Menschen, die mir gegenüber wohlwollend sind und mich verstehen möchten. Sie sind auf jeden Fall eine extreme Unterstützung. Und meine Schwestern sind ja auch immer laut, was diese Themen angeht. Vielleicht bin ich ja auch das für sie.
Es ist schön zu wissen, dass man sich auf seine Geschwister verlassen kann und dass ihr zusammen Ziele verfolgt. Letzten Winter beispielsweise habt ihr gemeinsam Obdachlose umsorgt. Was war dabei dein Antrieb?
Als ich von Flensburg nach Hamburg gezogen bin, hatte ich Respekt davor, weil ich hier keine ehrenamtlichen Anlaufstellen mehr hatte. In Flensburg wusste ich schon, wo ich etwas machen kann, wenn ich helfen möchte. In Hamburg hatte ich erst mal eine Hemmschwelle. Ruf ich einfach irgendwo in irgendeiner Suppenküche an oder wie mache ich das jetzt? Aber tatsächlich muss man genau das machen. Und es ist auch für einen selbst eine extrem tolle Sache, weil wir in so einer kapitalistischen Welt leben, die viel mit Leistung und Effizienz verbunden ist. Deshalb ist es für mich selbst auch sehr erholend, wenn ich weiß, dass ich irgendwo bin und nicht nach meinem Leistungswert beurteilt werde, sondern als Mensch gesehen werde. Deshalb kann ich das jedem empfehlen, denn es gibt ganz viel Energie.
Welche Persönlichkeitseigenschaft schätzt du besonders an Menschen?
Ich schätze besonders an Menschen, wenn sie Lern- und Entwicklungsprozesse zulassen und auch mal etwas Negatives annehmen. Ich habe das Gefühl, dass heute sehr viele gesellschaftliche Entwicklungen erschwert werden, weil den Menschen ihr Ego im Weg steht. Man kennt es: „Wieso sollte ich das jetzt anders sagen? Das war doch schon immer so.“ Jemand weist sie auf etwas Unsensibles hin und dann wird nur dagegen argumentiert mit den Worten: „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen.“ Ich glaube, dass diese Idee davon, dass Lernen etwas Schlechtes und nichts Erwünschenwertes ist, etwas ganz Toxisches für die Gesellschaft ist und hoffe, dass wir uns dahin bewegen, dass wir uns freuen, wenn wir auf etwas aufmerksam gemacht werden, was unsensibel war und das versuchen, zu verstehen und daraufhin unser Verhalten zu ändern.
Du bist Sängerin, Schauspielerin sowie Aktivistin und bist maximal kreativ. Was ist das nutzloseste Talent, das du bestitzt?
Bis jetzt ist das nutzloseste Talent, Mini-Gemüse anzubauen. Ich wollte während der Pandemie so wie viele andere wieder meinen Bezug zur Natur aufbauen. Ich war am Start, aber die Natur hatte keinen Bock und hat mir winziges Polly-Pocket-Gemüse gegeben. Das war ziemlich nutzlos. (lacht)
Fragt man dich nach deinem Alter, antwortest du mit 20+. Warum?
Mein Gedanke war, dass wir darüber reden, wie es jetzt zum Beispiel der Fall ist. Ich finde es blöd, jemanden einzukategorisieren nach einer Zahl, denn Zeit ist ja auch eine verhältnismäßige Erfahrung. Ich habe auch gemerkt, dass ich Menschen in meinem Umfeld, die mit 50 eine Hardcore-Party-Phase im Berghain starten, kein Verständnis entgegengebracht habe und dachte: Warum machst du denn jetzt so etwas? Oder dass ich mir nichts von meinen jüngeren Freunden sagen lassen wollte, weil ich behauptet habe: Ach, das kannst du ja gar nicht wissen! Ich fand das erschreckend, an mir selbst zu merken, dass ich Menschen nach ihrem Alter werte oder ihnen Dinge ihrem Alter vermeintlich entsprechend zuordne und ich möchte, dass, wenn ich 60 bin und den Drang zum Feiern verspüre, sich alle für mich freuen und sagen, dass sie mitkommen. (lacht) Deswegen habe ich das gemacht, um an mir selbst zu arbeiten, andere Menschen nicht danach zu fragen und hoffe, dass ich mich selbst später von den Erwartungen an meine Generation nicht einschränken lasse.
Du hast bereits vor Release dein komplettes Album auf dem Dockville gespielt. Wie waren die Reaktionen?
Ich hatte natürlich erst mal ein bisschen Angst, weil es immer aufregend ist, wenn man neue Sachen spielt. Man weiß ja auch, je besser die Leute die Lieder kennen, desto mehr feiern sie das Konzert. Aber es war richtig süß, weil ich vorab schon von manchen Sachen kleine Mitschnitte präsentiert oder in Live-Sessions gespielt hatte. Dementsprechend konnten ein paar Menschen die Lieder auch schon inbrünstig mitsingen. Das Album ist aber auch ein bisschen funkiger und danciger geworden als die Sachen davor, was ich auch wollte. So konnte man, auch wenn man die Songs nicht kannte, schon mittanzen und das war sehr praktisch dafür.
Was möchtest du noch loswerden?
Kommt zu meinen Konzerten, weil ich alle lieb habe.
Fotos Clara Nebeling
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