Höher, schneller, weiter – warum es besser und sogar effizienter ist, einen oder auch zwei Gänge zurückzuschalten.
Abi machen, direkt ins Studium, neben der heißen Klausurenphase in den Semesterferien Praktika machen, jobben und sich ehrenamtlich engagieren – kommt schließlich immer gut im Lebenslauf. Dann noch die Bachelorarbeit schreiben, ach ja und auch noch soziale Kontakte pflegen. Das Ganze noch in der Insta-Story posten, damit auch alle sehen, wie busy man gerade ist. Man muss ja schließlich auch was tun für seinen Burn-out. Ähm ja, alles klar. Ist Stress inzwischen ein Statussymbol geworden?
Don’t get me wrong, von nichts kommt nichts. Man muss schon etwas tun, wenn man die eigenen Ziele erreichen möchte. Aber piano, bitte. Etwa ein Viertel der Studierenden geben an, dass sie gestresst und erschöpft sind. Es scheint also mittlerweile ein Trend zu sein, so viel Stress wie möglich haben zu müssen und das dann noch auf Social Media zu verherrlichen. Da hat man ja fast schon ein schlechtes Gewissen, wenn man zwischendurch mal nur auf der Couch rumlungert.
Mehr ist mehr
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der es nicht gerne gesehen wird, wenn man Freizeit hat. Stattdessen wird gerade an junge Menschen die Erwartung gestellt, so viel wie möglich in kürzester Zeit zu leisten. Das Studium muss in jedem Fall in Regelstudienzeit abgeschlossen werden. Aber gerade bei utopischen Stundenplänen ist das wenn überhaupt nur unter großem Zeitdruck zu schaffen. Da ist der Stressausschlag schon vorprogrammiert und wenn ich mir ein paar meiner Freund:innen angucke, würde es mich nicht im Geringsten wundern, wenn sie schon mit Anfang 20 einen Burn-out bekämen.
Johanna berichtete mir von dem fünften Semester ihres Forensikstudiums mit den Worten: „Das Studium war zwar von Anfang an stressig, aber jetzt heißt es einfach nur noch überleben.“ Apropos – Stress ist durchaus überlebenswichtig, denn er führt automatisch dazu, auf Bedrohungen schnell reagieren zu können, sodass alle Kräfte mobilisiert werden. Ohne Stress könnten wir also nicht (über-)leben. Jetzt kommt das große Aber: Anders als früher müssen wir heute jedoch nicht mehr vor einem Säbelzahntiger davonlaufen, sondern werden bombardiert von unzähligen Klausuren und E-Mails, vom sozialen Stress ganz zu schweigen. Typische Stressreaktionen sind dabei Gedanken wie „Ich schaffe das nicht“, Gefühle wie Angst oder körperliche Symptome wie Zittern. Bluthochdruck, Libidoverlust und Depressionen klingen zunächst nach Alt-Männer-Krankheiten, sind aber Folgen von chronischem Stress – auch bei jüngeren. Denn Stress passiert dann, wenn äußere oder eigene Anforderungen unsere Kapazitäten überschreiten und davon sind bereits Teens und Twens betroffen.
So tun als ob
Als wäre das nicht schon genug, kommt noch hinzu, dass man durch den ganzen vorherrschenden Druck selbst in ruhigen Momenten das Gefühl verspürt, wenigstens so tun zu müssen, als sei man super beschäftigt. Die Zeitmanagement-Expertin Cordula Nussbaum sagte im Interview gegenüber der Süddeutschen Zeitung: „In unserer Gesellschaft sind wir extrem auf Leistung gepolt, da dürfen Angestellte natürlich niemals durchleuchten lassen, dass sie nicht 180 Prozent geben. Wenn diese Menschen dann auch noch das Damokles-Schwert des drohenden Jobverlusts über sich spüren, dann geben sie schon aus reinem Selbstschutz vor, mehr zu tun, als sie wirklich leisten.“ Ich persönlich habe kein Problem mit meinen neun Semesterwochenstunden. Aber wie gehen andere mit plötzlicher Freizeit um? Haben sie das Gefühl, etwas zusätzlich tun zu müssen? „Ich bin mir bewusst, dass ich mir auch selbst viel Druck mache und es im Endeffekt keinen anderen wirklich interessiert, aber dennoch ist Stress der Standard in unserer Zeit und ich habe das Gefühl, dass sich viele darüber profilieren“, offenbart die frisch gebackene Maschinenbau-Bachelorette Karina.
Feel-Good-Quality-Time
Und wenn die ganzen Hausarbeiten und unzähligen Klausuren geschrieben sind, was dann? Haben wir verlernt, wie man anständig faulenzt? Oft macht sich dieses Gefühlt breit, noch etwas mehr machen zu müssen und die Suche nach der nächsten Beschäftigung beginnt. Dabei ist überhaupt nichts Verwerfliches daran, auf die Frage, was man heute Schönes gemacht hat, einfach mal mit „Nichts“ zu antworten. Zudem sind Menschen produktiver und effizienter, wenn sie erholt sind und Gedanken auch mal schweifen lassen können. Work-Life-Balance ist hier das Stichwort. Die Skandinavier:innen machen es vor und auch die ersten Unternehmen in Deutschland sind auf den Geschmack der Vier-Tage-Woche gekommen. So beispielsweise der Braunschweiger Friseur Haarwerk. Die Friseur:innen sind von dem Konzept überzeugt und schwärmen im NDR-Interview: „Man ist körperlich viel ruhiger und schafft privat viel mehr. Arzttermine, aufräumen, putzen, sich mit der Familie oder mit Freunden treffen. Oder einfach mal ausruhen und entspannen.“ Die Inhaber wollen dadurch vor allem neue Mitarbeiter:innen gewinnen, denn „der heranwachsenden Generation geht es weniger um Geld, sondern mehr um Zeit“, heißt es im NDR-Beitrag weiter. Dennoch arbeiten sie für den vollen Lohnausgleich.
Es gibt also Licht am Ende des Tunnels. Und solange Uni oder Arbeit die Nerven strapazieren, gibt es ein paar SOS-Tipps zum Durchatmen. Neben den Basics wie 30 Minuten Bewegung, einer ausgewogenen Ernährung und einer guten Mütze Schlaf können Atemtechniken wahre Wunder wirken: Bei der Bauchatmung legt ihr eine Hand auf den Bauch und atmet gleichmäßig durch die Nase ein und aus, während ihr euch auf das Heben und Senken eurer Bauchdecke konzentriert. Diese Technik kann darauf ausgeweitet werden, dass ihr doppelt solange ausatmet, also beispielsweise vier Sekunden ein und acht Sekunden aus. Nach diesem Moment der Ruhe sieht die Welt doch gleich wieder ein bisschen anders aus, oder?
Also lasst uns Trendsetter:innen sein, denn Stress ist nicht mehr en vogue. Chillen hingegen kommt nie aus der Mode. Da bietet sich der Herbst doch perfekt an, um einen Spaziergang zu machen, durch das Laub zu schlendern und einen heißen Pumpkin-Spice-Latte zu schlürfen. Aber jetzt stresst euch bitte nicht auf dem Weg zu mehr Gelassenheit und Wohlbefinden, denn es dauert, bis alte Verhaltensmuster abgebaut und neue aufgebaut sind. In der Ruhe liegt schließlich die Kraft.
Foto Navina Halbe
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