»Blow up«

Kunstmuseum Wolfsburg zeigt Schätze der eigenen Sammlung

Mit der Ausstellung „Blow up! – Vom Wachsen der Dinge“ zeigt das Kunstmuseum Wolfsburg vom 10. Dezember bis 19. März 2023 besondere Schätze der eigenen Sammlung, die durch 70 Schenkungen aus jüngster Vergangenheit eindrucksvoll erweitert worden ist. Die unterschiedlichsten Themen unserer Zeit stehen dabei in ihrer breiten medialen Vielfalt impulsgebend im Mittelpunkt. Ob Räume, Landschaften oder Diskurse, in allen Werken geht es um hintergründige, psychologisch und gesellschaftlich relevante Entwicklungen. Das Kunstmuseum hat dafür den Vergleich mit einem Rhizom gewählt, also einem Spross, dessen Wurzeln nach unten gehen und aus denen sich nach oben die Blatt-Triebe entwickeln.

 

Bei dem Werk „Blob“ von Phyllida Barlow scheint sich eine blasenartige Keimzelle ihren Weg aus der Wand in den Ausstellungsraum zu bahnen. Diese Urkraft wird unterstrichen durch seine unbestimmte Form und seine rohe Materialität. In ihrer archaischen Wirkung und Anmutung ganz ähnlich ist Gary Hills Videoarbeit „Remembering Paralinguay“. Die kraftvoll geformten Laute der Performerin erinnern an eine vorsprachliche Form der Kommunikation.
Bei dem Künstler Otto Piene geht es um die wechselseitige Beziehung von Wachstum und Vergehen. „Fleurs du Mal“ (Blumen des Bösen, 1969) hat er sein eindrucksvolles pneumatisches Ensemble genannt. Das Spiel mit den Naturkräften und -elementen thematisiert er darüber hinaus auch in seinen Wandreliefs, die einen gelungenen Dialog zu den „aufgepeitschten“ Keramikbildern von K.O. Götz bilden. Jochen Lempert verleiht seinen Tierporträts eine individuelle Note, indem er das technische Spiel mit der Größe beherrscht. Dieses Spiel, bei dem es um Vergrößerungen in der Fotografie oder das Heranzoomen in Filmen geht, wird auch als „blow up“ bezeichnet.

Adam Putnam will mit seinen Fotografien unbestimmbare räumliche Situationen sowie unmittelbare physische Interaktionen mit dem Raum entwickeln. Das Interieur seiner Pariser Wohnung erforscht Daniel Boudinet in der Nacht mit der Kamera und achtet dabei auf größtmögliche emotionale Distanz. In seinen Projektionen auf Häuserwände von Metropolen geht es Alain Fleischer um das Spiel von (maximaler) Distanz und (intimer) Nähe.
Jürgen Klauke zeigt in seinem großen dreiteiligen Werk „Zweisamkeitsimaginierung“ den Kampf des Körpers mit der Vergänglichkeit der dinglichen Welt. In dem Werk von Stefan Thiel geht es dagegen um Fetischvorlieben. Dabei verhüllt er die Porträtierten mit Nylonstrümpfen. Das Verborgene und Bruchstückartige fasziniert auch die feministische Künstlerin Wynne Greenwood, die in ihrer Videoinstallation bürgerliche Konventionen karikiert und ein Zwiegespräch mit ihrem „ängstlichen Bauch“ führt. Dagegen geht es in dem Werk der argentinischen Malerin Mariela Scafati um eine Rauminstallation als Erweiterung ihres eigenen Körpers. Die beweglichen monochromen Leinwände werden über Seilverbindungen flexibel orchestriert.

Kritisch hinterfragt werden von anderen Werken der Ausstellung nicht nur die Selbstverortung des Individuums, sondern auch die gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen. Etwa, wenn es um das Verdrängen der fehlenden Auseinandersetzung mit der US-amerikanischen Geschichte und Gegenwart geht. Mit einer raumgreifenden Installation kritisiert Rodney McMillian den Rassismus und die patriarchalen Machtstrukturen. Olga Koumoundouros stellt die Blockhütte als Urtypus der US-amerikanischen Architektur in den Mittelpunkt ihrer Skulptur „Sagamore: The Good Life“. Darüber hinaus nimmt sie in einer weiteren Werkserie die tief in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelte Waffenbegeisterung aufs Korn. Fred Lonidier dokumentiert sozusagen, als Groteske, die Festnahmen friedlich gegen den Vietnamkrieg Protestierender im Jahr 1972. Das Werk von Johannes Wohnseifer kommentiert bissig das Erbe des westlichen Kolonialismus mit dem Titel eines Flaggenbildes: „not a flag not even a map“.
Der Künstler Nathan Carter hinterfragt die auf ein bestimmtes Staatsgebiet festgelegten Grenzen und stellt dem in bewusst naiver Ästhetik eine Kartografie jenseits des Nationalstaats gegenüber. Mit der Darstellung lebloser Körper von „Boatpeople“ legt Tejal Shah die gescheiterten Grenzüberwindungen durch Flucht und Migration offen. In seiner Filmarbeit „I´m sorry but i don´t want to be an Emporer“ ruft auch Jordan Wolfson auf, für die Werte der Demokratie zu kämpfen, indem er in Gebärdensprache Charlie Chaplins Rede aus der Parodie „Der große Diktator“ wiedergibt.
Zum Ende der Ausstellung scheint sich der „Blob“ von Phyllida Barlow füllig und prall zu einer überdimensionalen Überwachungskamera weiterentwickelt zu haben, welche vor dem immer und jederzeit anwesenden „Big Brother“ warnt.

Im Rahmen von „Blow up!“ präsentiert das Kunstmuseum Wolfsburg aus seiner Sammlung auch das zehn Quadratmeter große Gemälde „What looks good today may not look good tomorrow“ (1999) von Michel Majerus. Er ist mit nur 35 Jahren 2002 bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Eine deutschlandweite „Ausstellungsreihe Michel Majerus 2022“ erinnert 20 Jahre nach seinem Tod an seine Schaffenszeit, die bis heute Künstler*innen jüngerer Generationen beeinflusst. Aus der Sammlung des Kunstmuseum Wolfsburg ist im Hamburger Kunstverein noch bis zum 12. Februar die raumgreifende Installation „The space is where you´ll find it“ zu sehen.

Fotos VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Marek Kruszewski,
Gene Ogami, Schenkung aus Privatsammlung

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Jochen Hotop

Geschrieben von Jochen Hotop

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